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Neuigkeiten und Termine

Traumzerkratzungen

1.

Jeder weiß, dass London eine ziemlich kleine Stadt ist. Der eine ihrer beiden Stadtteile reicht in der Art einer Halbinsel als dünne Zunge ins Meer hinein. Er besteht aus einer Hauptstraße – eher einem Hauptkorridor –, von dem mehrere Seitenstraßen – eher Seitenkorridore, noch eher Nischen – abzweigen. Die Besonderheit dieses Stadtteils ist, dass er als Ganzes knapp unter Wasser liegt. Die Korridore, mit Ladenfronten an beiden Seiten, sind bis zu den Dächern mit Wasser gefüllt, die Lokale, die Clubs in den Seitengängen und Nischen stehen unter Wasser. Man erkennt die Lebenden unter den auf den Straßen dahintreibenden Passanten daran, dass sie von Zeit zu Zeit (alle paar Minuten) hochsteigen, um nach Luft zu schnappen. Sonst ist ihre Haltung, mit hängenden Schultern, gesenktem Kopf, kaum von der der Toten zu unterscheiden. Insbesondere betrifft dieser Mangel an Unterscheidungskraft mich, Besucher dieser Stadt, der noch am selben Tag in den anderen Stadtteil mit den Einkaufszentren und dem Bahnhof zurück möchte. Man erklärt es mir; als ich die Erklärung höre und jetzt erst merke, dass es unter den Menschen hier auch Tote gibt (wenn auch wenige, weil man sie auszusondern trachtet, sobald man sie erkannt hat), beginne ich zu zweifeln, ob mir diese Rückkehr gelingen kann, ich beginne zu zweifeln, ob ich das möchte, wieder nur atmen –

2.

Ihr existiert ja nicht, sage ich zu den im Halbschlaf auftauchenden Figuren, diesem Mann da mit Schirmmütze, der viel prägnanter und individueller ausschaut als die meisten Leute, die mir in Wirklichkeit begegnen. Vielleicht reicht in der Wirklichkeit mein Blick auch nicht aus, um das Individuelle an ihnen zu erfassen. Ein paar kleine Buben drängen sich ins Bild, doch, doch, rufen sie, natürlich existieren wir, gleich verliere ich sie aber aus dem Blick und wache ein Stückchen weiter auf. Sie existieren nun also nicht mehr und ich wüsste auch nicht, wo ich sie suchen und wiedertreffen könnte.
Aber ich bin mir nicht ganz sicher. Manchmal scheint es mir, zu den Milliarden von lebenden und sterbenden Menschen würde es Milliarden von Schattenmenschen geben, von deren seltsamer Zwischenwelt uns wenig bekannt ist. Kann sein, dass die Toten hier warten. Vielleicht bewohnen sie die Städte, in die ich immer wieder zurückkehren muss (nächtliche Zweitgesichter wirklicher Städte, prägnanter und individueller als die Gesichter mit verwaschenen Zügen, die sie dem Tag zuwenden). München, das fast nur aus einem unübersichtlichen, potentiell endlosen und sich auch unablässig verwandelnden U-Bahnnetz (mit dem Hauptbahnhof irgendwo im Zentrum) besteht, man kann niemals wissen, wo in dieser Stadt man an die Oberfläche kommen wird. Es gibt Lokale, in denen man auf Bekannte treffen würde, aber man wird sie verfehlen. Paris, das manchmal London heißt, kompakt und zugleich riesig, von einer imaginären Stadtmauer umgeben, in der Mitte von einem Fluss durchschnitten; in einer einzigen Anstrengung zu überfliegen und zu durchmessen, während man sich zugleich auf endlosen Fußmärschen zwischen den wie in einer Einlegearbeit ineinander verschränkten Häuserblöcken verlieren kann. Die kleine Stadt im Norden am Meer, am Ende der Bahnstrecke, die manchmal Hamburg und manchmal Kopenhagen ist und in mir schon bestand, bevor ich in Hamburg oder in Kopenhagen war. Eine Hauptstraße (die einzige dieser Stadt) zieht sich nach oben hin zum Meer, wo es weder einen Hafen gibt noch einen Kai oder Strand, sondern die Stadt, mit ihr die Welt, einfach abbricht. Links und rechts von dieser Hauptstraße sind in den engen Gässchen spätabends (ich komme immer spätabends hierher) kaum Menschen unterwegs, den wenigen, die man antrifft, muss man misstrauen. Ein Autobus, den ich immer versäume – oder aus dem ich immer bei der falschen Station aussteige – fährt die Hauptstraße entlang. Viele finstere Geschichten (von denen ich vielleicht nur wenige überlebte) haben sich im Lauf der Jahre in dieser Stadt abgespielt, ich habe sie alle vergessen; doch es ist sicher, dass ich sie wiederfinden kann, so wie ich auch das Hotel wiederfinden kann, in dem ich vor vielen Jahrzehnten in Paris (London) gelebt habe. In einem Blitz können sie da sein. Dann wären die Zeit und die Geographie ausgeschaltet und ich würde etwas begreifen, von dem wir als Wache keine Ahnung haben.
Jede Nacht kann ich über die Stadt fliegen und sie als Ganzes überschauen, dann (wie durch das Umlegen eines Schalters) in sie hineinstürzen, nahe am Fluss unterwegs sein, immer müder werden, so müde, wie man nur in der Tiefe eines Traums werden kann: ich weiß das versteckte Haus ganz nah und werde es doch nicht erreichen, in dieser Nacht nicht und in keiner anderen Nacht. Du musst noch müder werden. Ganz langsam, du merkst es kaum, setzt sich der Schalter erneut in Bewegung.

3.

Er sei weichhart gefallen, sagt, bereits in indirekter Rede, der Mann in meinem Kopf, und so habe er nicht schlecht geschlafen. Weichhart wie ein Ei. Er könne aber nicht behaupten, dass es sein eigener Schlaf gewesen sei.

4.

Der Krieg ist aus

Barcelona in den Siebziger Jahren. Mit Mühe und nicht ohne Polizeiknüppel zu spüren zu bekommen, habe ich die Wohnung von Carlos Flachs gefunden, dem General und Maler, den ich noch aus der Bürgerkriegszeit kenne. Obwohl er Faschist war, ein Freund. Ich stehe im Badezimmer, klopfe ans Glas der Waschmaschine und warte. Hallo, Mauser, sagt meine kleine Tochter zu einem Stofftier, das im Wäschekorb liegt. Es ist still, und hinter der Tür der Waschmaschine rührt sich lange nichts. Das Bild von Carlos Flachs steht mir deutlich vor Augen. Eine Apparatur, die mich sichtbar macht in den leeren Straßen dieser fremden Stadt aus der Vergangenheit. Und die, wenn ich meine Fragen stelle, die Schläge der Polizisten nur herausfordert. Ich schaue nach oben. Fett tropft von den Stahlträgern der Brücken. Ich sehe es, verschweige es. Unter diesem niederen, diesem widerlich nahen Himmel kann ich in jedes andere Jahrzehnt gezogen werden, in jedes Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, immer nur des 20. Jahrhunderts, denn vorher hat es nichts gegeben, von der Zeit davor sind nur Knochen und Staub, Bilder in Geschichtsbüchern und Historienschinken und wir selbst als Enkel und Urenkel – zitternde Spielfiguren, dünn wie Scherenschnitte – geblieben, und das neue Jahrhundert hat noch nicht begonnen und wird niemals beginnen. Alle diese Jahrzehnte sind jetzt, alle diese Städte zeigen sich als eine Stelle dort an der Mauer. Manchmal glaube ich, ich kann mein eigenes Hirn sehen. Dort an dieser Mauer, dort draußen, unter diesem widerlich nahen Himmel, ich weiß, dass es mein Hirn ist und nichts anderes sein kann, nichts anderes kann ich sehen.

5.

Er braucht nur diese Tür (gleich hinter dem Küchenschrank) zu öffnen, dann verfügt er über eine Schattenwohnung. Ihr Grundriss gleicht spiegelverkehrt dem der seinen. Die Zimmer seiner Schattenwohnung sind leer, die Wände unverputzt; eine Küche, die keine Küche ist, ein Zimmer, das kein Zimmer ist, ein Bad, das kein Bad ist. Die ungleichmäßige grünliche Färbung der rauen Mauern, der schwärzliche Boden bieten Farbtöne, wie sie in der bewohnten Welt nie zu finden sind (in den Wäldern findest du sie, im fauligen Holz), sie geben den Mauern und dem Boden ihre minimale, reduzierte Form von Lebendigkeit. Es ist nicht mehr zu sagen (und auch irrelevant), ob dieser Farbton, diese Lebendigkeit aus ihnen selbst kommt oder ob hier irgendwelche parasitären Lebensformen nisten. Du kannst dich mit den Flechten, mit dem Schimmel identifizieren, die Flechten, der Schimmel nehmen den Raum so wahr wie du ihn wahrnimmst. Die Fenster deiner Schattenwohnung sind groß; so groß wie die Fenster in deiner Wohnung und von keinem Vorhang und keinen Jalousien verdeckt; der Blick auf die leeren Straßen zeigt ein Bild, das einen winzigen Ruck von dem vertrauten Ausblick aus deinem eigenen Fenster versetzt und dir schon völlig fremd ist. Was ich für die Wirklichkeit hielt (und dem ich als Person angehörte: meine Möbel, meine Bücher, meine Erinnerungen), ist eine flüchtige Brechung des Lichts. Beständig ist meine leere Schattenwohnung, die ich durch Zufall entdeckte.
Folgst du mir, meine Liebste, so werde ich dich nicht mehr erkennen. Du wirst mich nicht mehr erkennen. Deine Schattenwohnung und die meine werden sich nicht mehr berühren (du wendest dich um, durch die offene Tür siehst du meine Küche, meine Möbel, meine Bücher, überzogen von einer dünnen grünlichen Schicht, einer modrigen schwarzen seltsam lebendig erscheinenden Schicht).
Ganz leise schließt sie hinter sich die Tür, schiebt den Küchenschrank zurecht, auf der Straße geht ein Mann mit Bermudashorts und weißen Socken, sie sieht nicht sein Gesicht, nur die schwarze Schirmmütze auf seinem Kopf, seine feisten Waden, dahinter eine Frau mit Kinderwagen, dahinter ein Mädchen, dahinter niemand, dahinter jemand anderer, auf dem Trottoir gegenüber keiner, den sie kennt. Sie wendet den Blick nach oben, die Straße zieht sich über Hügel hin schnurgerade in die Ferne, weit über den Häusern liegt eine dichte gleichmäßige Wolkenschicht, eine freundliche dunkle Hand, ein Tuch aus Nichts.

- Hallo, sagt aus dem Wäschekorb heraus der Mauser, der eine Baskenmütze trägt; ein wenig mühsam richtet er sich auf, an seiner Oberlippe ein nervöses Zucken. Ich schaue auf die Waschmaschine und mich erfasst eine ungeheure Angst.




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