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Texte

The sweet hereafter, Auszug

(…)

Aus dem maschinenhaften ungesteuerten Mo­no­log der Heimbewohne­rin, die Frau Cerny genannt werden kann, verbleiben im Gedächtnis nur einige Schlüsselworte und seltsame Ausbrüche, während sie doch nie aufhörte zu reden und es von außen schien, als würden die Wör­ter ganz zufällig aufeinander folgen, unabhängig jedenfalls von al­lem, was man währenddessen mit Frau Cerny anstellte (die Hand im feuchten seifigen Waschlappen, die ihr übers Gesicht fährt, und sie schließt brav die Augen, die über ihren in Hautfalten aus­ein­an­derfallenden Körper streicht, ihre Brüste hebt, unter denen die Haut auf­zu­scheuern droht, und die Reste ihres Kotes aus der Spalte ihrer Hinterbacken entfernt, die andere nackte Hand, die ihre Hand hebt, um sie zwischen den Fingern zu säubern, und die sie das Knie anwin­keln läßt, um ihr die Füße zu waschen, das breite fleisch­farbene Höschen, in das sie schlüpfen muß, die dunklen Strümpfe, die ihr übergestreift werden, das Unterkleid, das ihr über den Kopf ge­scho­ ben wird, und sie muß ihre Arme heben, das Kleid, das ihr am Rücken zugeknöpft wird, der Kamm, der durch ihr weißes Haar fährt, und gerade nur wenn sie dabei zu stark an der Kopfhaut ge­rissen wird, scheint sie Schmerz oder Wut zu empfinden, der Stuhl, auf den man sie setzt und zum Tisch hinschiebt, in der Hoffnung, daß sie hier so lange sit­zen­bleiben wird, bis man anderes mit ihr vorhat). Sie sah keinen an und erkannte keinen, der sich als Hin­dernis vor ihre Augen schob, fast immer blieb ihre Stimme monoton, ihr Reden halblaut, auch wenn sie Dinge sagte wie Ich bin gestor­ben oder Heute muß ich un­bedingt noch jemanden töten, oder wenn sie sich für Momente dazu herabließ, den Pfleger oder irgendeinen anderen wirklichen oder vor­ge­stellten Gegenstand des Kranken­zim­mers mit ihrem Vater oder ihrem Ehemann zu identifizie­ren, so daß er nun eine Art Schwer­punkt bildete, den ihre Wor­te und Blicke (nie­mals Gesten) zwar nicht trafen, um den sie sich aber als dünne Kraftlinien ordneten. Umgekehrt konnte sie ihren greisen und halb­blinden, sich täg­lich zu ihr auf Besuch schlep­penden Ehemann oder ihre eigene Foto­grafie (mit Strohhut auf einer südlichen Ter­rasse in einer Techni­kolor­ vegetation der Fünf­ zigerjahre oder in einem Garten­sessel mit dem freundlich in die Kamera schauenden längst verstor­be­nen schwar­zen Haus­hund am Schoß) in indifferente oder lä­stige Gegenstände verwandeln, gegen deren Nähe sie passiven Wi­der­stand zu leisten hatte, Gegenstände, die mit ihrer Ge­schich­te und mit den Ge­schichten, in denen sie lebte, nichts zu tun hatten und für nichts, das sie verstehen konnte, ein Zeichen waren. Die reine und unbe­wegte Oberfläche des Spre­chens, in der die gröbsten Hin­weise auf Tod und Gewalt und Verzweiflung keine Spuren hin­ter­lie­ßen und kei­ne tiefere Bedeutung offenbarten, in der auch die Worte der äußer­sten Angst nichts als Wörter waren, wurde manchmal aufge­bro­chen von einem schrillen Geschrei, das eben­so unvermittelt ein­set­zen wie, nach einigen Sekunden oder einer Minute, wieder ver­sickern konnte, es schien dann, als wären die in ihr aufbewahr­ten und zu­sammengeklumpten Ge­ fühle nicht mehr in diesen Innenräu­men zu hal­ten gewesen und hervorgeplatzt in eine Außenwelt, wo sie eben­so­wenig einen men­sch­ lichen Zu­sam­menhang finden konnten wie zuvor im Verborgenen, im­mer noch waren sie um­hüllt von etwas wie einer dün­nen Fischblase und dem Zuhörer dieses Kreischens so unzu­gäng­lich wie ihr selbst, niemals an ihn gerich­tet, nie von ihm miß­zu­verste­hen als Versuch eines Ge­sprä­­ches, Hilferuf oder Aus­druck der Ver­zweif­lung, die schrillen Laute waren kurzlebige eigenstän­di­ge Wesen aus einer fremden Welt, die star­ben, wenn sich ihre Quel­le verschloß. Wo nahm sie Wörter her, sagte sie irgendetwas? Manch­mal drehte man das Radio auf, das auf dem Tisch im Kran­ kenzimmer stand, und es schien, als würde sie sich vollständig er­setzt wissen durch die Stimmen aus die­sem Apparat, sie verstumm­te, sobald man die Lautstärke ihrer Schwerhörigkeit angepaßt hat­te, und kommentierte höchstens noch nach einer unbekannten Logik mit weni­gen Halbsätzen die Nachrichten oder das Musikprogramm, manch­mal auch auf Französisch oder Englisch, als Mittelschullehre­rin hatte sie in früheren Zeiten den Kindern diese Sprachen beige­bracht. Ihr Mono­log konnte dann zu einem in ungreifbare Weiten zerfließen­den Dia­log wer­den; genausogut konnte er aber auch in ein Singen überge­hen, des­sen Melodie und Rhythmus nirgendwo festzuma­chen waren, die Stimme war dünn und krächzend, nicht sie selbst sang, sondern es sang aus ihr heraus, es, ein Un­be­kanntes, man wollte es nicht identifizieren, aber man konnte ahnen, daß Glei­ches auch an­derswo vorhanden sein muß­te als in diesem verwirrten Greisinnenkopf, versteckt noch, doch wachsend, und endlich kräfti­ger und widerstandsfähiger als man selber.

Frau Bauer, die in dem selben Zweibettzimmer näher am Fenster und an der kleinen Terrasse ihren Schlafplatz hatte, saß oft stundenlang am Bett von Frau Cerny, wenn diese Infusionen bekam, und be­trach­tete die nachein­ander sich lösenden, herab­fallenden und in den Schlauch gleitenden Tropfen in der Infusionsflasche; als ehemalige Kranken­schwester glaubte sie sich zu dieser Betreuung ihrer Mitpatientin verpflich­tet, sie machte sich Sorgen um die Cerny, wie sie sagte, und fragte jeden, der vorbeikam, immer wieder nach dem Doktor, mit dem sie die wei­te­re Behandlung besprechen wollte, und immer wie­der muß­te sie sich mit Vertröstungen und mit Lügen zufriedengeben, weil man ihr nicht sagen konnte, daß sie nie mehr etwas zu tun haben würde und daß ihre ganze Zukunft in der Vergangenheit lag, man belog sie und spielte mit ihren Träumen, auch dann, wenn sie einen gleich über die Gasse zum Bäcker schic­ken wollte, in einen Ort namens Atzenbrugg, wo sie sich, so vermutete man, aufhielt in ihrem Vaterhaus, oder wenn sie sich auf dem Weg zur im selben Heim und im selben Stockwerk be­find­lichen Kapelle im Sommer mit Schal und Kopf­­tuch und mit Anorak und Regenmantel über mehre­ren Kleidern für einen Winter wappnete, den sie gar nie mehr er­le­ben sollte; nun tat man so, als könnte sie verzichten auf diese vielen Kleider, sie würde in der selben Sommerhitze, in der selben geordneten Abfolge von Jahreszeiten und Orten leben wie die Jungen, Gesunden, Arbeitsfähigen und Klardenkenden, die frei waren, über sie zu lachen. Die Toten sollen mit den Toten umgehen. Das Bild von der ersten Begegnung mit Frau Bauer zeigt ihre einwärts ge­drehten Füße und die klobigen braunen Schnürschu­­he mit den falsch einge­fädelten Bändern, an denen ich umständlich herum-han­tiere, wäh­­rend sie freundlich herablächelt auf diesen unbekannten Kolle­gen, mit der selben verschmitzten Freundlichkeit, mit der sie alle die eigenartigen Dinge beantwortet, die ihr zustoßen, kleine Tie­re, die auf dem Gang herumkriechen zwischen unseren Beinen, wenn man sie spazierenführt, unbestimmbare, aber jeden­falls lie­bens­werte, wahrscheinlich pelzige Wesen mit schwarzen Stupsnasen und Knopfaugen, auf die man nicht treten darf, wie winzige Kätz­chen oder Otter schlängeln sie sich über den Fußboden, vom selben Korridor aus grüßt ihre am Boden liegende große Schwester oder eine alte Schulfreundin durch die offene Türe ins Zimmer hinein, wo Frau Bauer nachmittags, bevor ihr der süße Malzkaffee und die Mehlspeise zur Jause gebracht wer­den, an­ge­kleidet am Bett liegt. Mit ihrem langem weißen Haar, dem spitzen Kinn und der spitzen Nase, dem mageren verkrümmten Körper und den lebendigen Augen im verfallenden Gesicht tauchte Frau Bau­er auf ihren silbern glänzen­den Rollwagen gestützt manch­mal ge­spen­ster­gleich im Schwestern­zimmer, in einem fremden Kran­ken­zimmer, irgendwo am Gang oder in einem Aufenthaltsraum auf, wo man sie gerade niemals ver­mutet hätte, und sie schien je­derzeit unbe­merkt wieder verschwin­den zu kön­nen; ich gebe ihr die Defini­tion zurück, die sie für mich ge­fun­den hat: Sie sind ja ein Ge­spenst, sagt sie (und die Wahrheit dieses Satzes braucht sie nicht zu küm­mern), als ich, ohne daß sie mich gehört hat, in der Tür zu ihrem Zimmer stehe, während sie in ungeschickter Weise, mit verdrehten Armen, versucht, sich am Türstock zum Bade­zimmer fest­zuhalten, von selbst keinen Schritt mehr gehen kann und jeden Moment zu stürzen droht, und ich ihr als dienst­barer Geist den Rollwagen bringe, den sie wie so oft irgend­wo am Gang vergessen hat.
Sie erlitt einen Schlaganfall, und man glaubte, sie könnte sich wieder erho­len, aber sie starb; von zwei Menschen gestützt konnte sie in den nächsten Tagen noch ein paar Schritte gehen, ihr Gebiß paßte nicht mehr, und ihr Gesicht war schief und verzogen; sie ver­such­te, am Tisch sitzend, zu dem man sie hinge­führt hatte, zu es­sen, aber die Suppe rann ihr übers Kinn auf das Pa­pier­lätzchen vor ihrer Brust und auf ihr blaues geblümtes Kleid; man versuchte sie zu füttern mit der Sup­pe und mit einem Saft namens Fortimel, der rich­­tiges Essen er­setzen können sollte, aber sie wußte nicht mehr zu schluc­ken, als wäre das Gewebe in ihrem Inne­ren dichter und schwerer ge­worden, undurchlässig für flüchtige Nervenimpulse und die Zuckungen des Lebendigseins. Jetzt war es sie, die auf dem Rücken lag an den Nachmittagen in ihrem weißen Hemd und an der Infusions­flasche hing, während Frau Cerny in vollkommener Gleich­gültig­keit dieser für sie unsichtbaren Zimmergenossin gegenüber lang­wierige Wan­de­rungen über die paar Meter zwischen Türe und Fenster unternahm und den Raum mit ihren Sätzen anfüllte. Später konnte man, wenn man am Zimmer vorbeiging und die Türe offen war, vom Gang aus das Röcheln von Frau Bauer hören, das pfeifende Einziehen von Luft in ihre von einem ödem befallenen Lungen, in einer Laut­ stärke, die einen zu dem Versuch verleiten konnte, an ihrer Stelle nach Sauerstoff zu schnappen und das lautlose und bewußtlose eige­ne At­men wie eine unterstützende Bat­terie, die über die Entfernung durch Analogie oder eine Art von Rückkopplung funktionieren soll­te, an das ihre anzu­ schließen. Appara­te sau­gten ihr von Zeit zu Zeit den Schleim aus der Kehle, sie mach­te einen zufriedenen Ein­druck; sie erzählte dem, der fortgeht und nicht mehr auf ihren Tod zu warten hat, dem, der sich in der Trunkenheit seines letzten Ta­ges in diesem Heim an ihr Bett setzt, um noch einmal aller Selbst­wahrnehmung zu entkommen und zu tun, als würde das Abschiednehmen eine endgültige Ausformung, eine Vollendung bedeuten, irgendeine Geschichte, und er verstand kein Wort und hörte sie kaum, fand ohne Schwierigkeit in den Rhythmus, in dem kurze Sätze und Schweigen einander ablösten, nickte ab und zu die­sem Rhythmus entsprechend, war zufrieden wie sie, erwarte­te nichts, fürchtete nichts, wußte, daß es keine Hoffnung gab und suchte kei­ne Hoffnung. Später kann ein Satz von Borges, viel frü­her schon ab­geschrieben in ein Notizheft, zu dieser endgültigen und bedeu­ tungs­losen Szene hinzukommen, ein Satz über ein islami­sches Para­dies und die eigenartige Glückseligkeit des Ab­schieds, des Ver­zichts und jener, die wissen, daß sie schla­fen; die Wörter und die Bilder sind nicht mehr voneinander zu trennen. Er weiß, daß er schläft, und er ist froh, eingesperrt zu sein in eine Situ­ation, nach deren Ge­setzen es keine Außenwelt mehr gibt; ich kann nicht aufstehen und meine Hand aus der Hand der langsam Ster­ ben­den lösen und ich will es nicht. Dieser Tod ist so viel wert wie jeder, wie meiner, Gespenster bestehen nicht auf Eigenem; ich stehe auf und löse meine Hand aus dieser Hand, doch ich glaube zu spüren, daß etwas abgefallen ist und zurückgeblieben, hier, in einem Ge­dächtnis der reinen Formen, wo der Tod schwe­bend und leicht scheint und keine Auslöschung zu befürchten, hier, im Paradies.
Es ging mich, höchstens noch ein Besucher mit zweifelhaftem Bezug zu den verbliebenen Bewohnern, schon nichts mehr an, wann genau in den näch­­sten Tagen Frau Bauer gestorben ist, wie leicht oder schwer ihr das Ster­ben wurde, ob sie allein war oder ob jemand tat, als würde er sie halten, ob sie nachts starb oder in der Morgendämmerung wie die meisten oder tagsüber mit dem Lärm des Alltags außer­halb einer kleinen Schweigezone um sie herum. Ich vertraue darauf, daß es einen Satz für jede Situation gibt und alles nur Literatur ist; daß man stirbt (und tötet, am besten sich selbst) mit erfundenen Namen, als zu­sammenge­bastel­­te nack­te Fi­gur, in einer brüchigen Har­mo­nie von Zügen, die doch jeder für sich dem Wirklichen ent­stammen sollen. Es sind nur noch Wörter, die Gestalt angenommen haben, Agenten, de­ren Plätze austauschbar sind, und die, ohne es zu merken und ohne den anderen und sich als den anderen zu kennen, wieder und wieder die Plätze wechseln, die nichts mehr sind und sein wollen als dieses Platzwechseln, dieses Ineinander­übergehen. Das Feu­er an seiner gläsernen Haut (ich weiß, daß ich schlafe) wäre, wie in der Legende eines vergessenen Heiligen, aus dem Eis selbst angefacht, win­zige bläuliche Flammen, ein kaum merkli­cher Strom; ein Schmelzen oder Zerspringen, wenn er die fein gezeichnete Gren­ze überschreitet, ohne Willen, ohne Macht, ohne Verzicht und Verletzung, in diesen Raum hinein, ins Innere der Geschichte. Al­le Recht­fer­ti­gun­gen sinken ab unter die Schwelle der Wahrneh­mung, in die schein­bare Tiefe, ins Nichts, er wäre nur noch dieses Absin­ken. Außen­flächen sind sichtbar.