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Texte

Der gedoppelte Blick

Als ich als Kind schreiben lernte, fand ich die Perspektiven schwindelerregend: diese Gegenstände der wirklichen Welt, die Bücher würden sich also ganz einfach durch eine Aneinanderreihung von Buchstaben erzeugen lassen; und es waren mehr als nur Gegenstände der wirklichen Welt, sie konnten ganze Universen voller Bilder, Geschichten, Leben öffnen.
Irgendwo sagt Kafka den pathetischen und vielleicht auch traurigen Satz, „Ich bestehe nur aus Literatur“, Sätze wie diesen wagt man kaum zu wiederholen. Aber es kann eine Art von Verschränkung zwischen der Literatur und dem sogenannten wirklichen Leben geben, ein Ineinanderspielen, in dem das Schreiben (oder auch das Lesen) zu einer besonderen Form von Erkenntnis wird, zu einer eigenen Form, sich in der Welt zu bewegen, und so über ein Geschichtenerzählen oder über ein Spiel mit der Sprache hinausgeht. Mein Text bildet nicht ab, was ich zeigen will; was ich zeigen will, entsteht erst mit den Sätzen; erst der Text läßt mich sehen, was ich sehe. Wenn ich nicht durch diesen Filter, in dieser leichten Verdrehung, denken und sehen würde, dann würde ich nichts begreifen und sehen; es wäre nicht ich, die Welt wäre für mich eine andere.


In einer Nacht im Juni 2003, in einem billigen Hotelzimmer nahe dem Platz mit dem Tunneleingang in Triest, unter Möwengeschrei vom schmalen Lichthof her, auf den das einzige Fenster hinausführt, schieben sich die Städte ineinander: ich lasse mein Gepäck im Hotel zurück, mache mich auf den Weg Richtung Zentrum, und weiß schon, daß ich den Weg vergessen werde, so wie ich den Namen und die Adresse meines Hotels vergessen habe. In meinem Reiseführer finde ich nur einen schematischen Stadtplan und den Hinweis, daß sich die verwinkelten Gäßchen dieser mexikanischen Stadt, P., nicht kartographisch darstellen lassen. Der Ort ist für eine einzigartige Sehenswürdigkeit berühmt; während ich mich (wie ein Schwimmer, abgetrieben durch die Gassen) dorthinbewege und den Weg nicht im Kopf behalten kann, leide ich schon im Moment des Erlebens an dem gleichzeitigen Entgleiten des Erlebten, dem Nichtaufschreibenkönnen (als würde ich nur dafür überhaupt etwas erleben). Von einer bestimmten Stelle aus soll in P. die versunkene alte Stadt oder zumindest der versunkene alte Tempel knapp unter dem Wasserspiegel zu sehen sein, eine leuchtende und durchscheinend feine Struktur, wie aus Wasser oder aus Licht aufgebaut. Zugänglich ist dieser Ort nur als ein großes und leeres Zimmer, mit einem Parkettboden, den wir, die Touristen, anstarren: ganz undeutlich, fast nicht wahrnehmbar, kaum von einer blassen eigenen Wunschprojektion zu unterscheiden, zeigen sich hier auf dem versiegelten Holz Muster, in einer Form von Abbildung, die gerade die allerschwächste Transparenz ausnützen (oder vortäuschen) kann; möglich auch, daß bloß das Unvermögen des Blicks dieses Zimmer und diesen Fußboden als Stellvertreter des eigentlichen Schauplatzes hervorgebracht hat.


Es ist nicht notwendig, „ich“ zu sagen; am Beginn und am Ende steht keine Selbstgewißheit; was da ist, das Drängen einer Wahrnehmung, eine Frage, eine Furcht oder Lust, ein Widerstand, ein Behagen gleitet oder stürzt in Sätze hinein; sucht in ihnen eine Form, die es nicht einzwängt; die Sätze geraten ins Fließen, neue Widerstände richten sich auf, ein Raum von Widerständen, Rückbezügen; die denkende Instanz, die in diesen Raum eingreift, hat sich an die Gesetze dieses Raums zu halten, darf das fragile Netz von Beziehungen, in dem jeder Punkt wieder aufgesucht und neu gefaßt werden kann, nicht stören; das Sinnliche und die Reflexion müssen sich miteinander verzahnen.
Am Anfang steht der Versuch, sich, nicht ganz daheim in der Wirklichkeit und in sich selbst, der Welt erst durch eine minutiöse Rekonstruktion (Ort für Ort, Zeitpunkt für Zeitpunkt, Detail für Detail) zu versichern; nun kehrt die Verdopplung, das Nichtganzdasein wieder, der kleine Spalt vor jeder zufriedenen Erkenntnis, vor der Erfüllung (die Auslöschung wäre). Immer schiebt sich der Parkettboden vor meine Augen, und ich weiß nicht genau, ob er nicht das ist, was ich eigentlich sehen möchte (sage ich).
Und doch kann ein Aufschreiben, das nichts mit einer angemaßten Autorität referiert, sondern jeden Gegenstand umkreist, hält, wieder losläßt, Schichten der Wirklichkeit, der körperlichen Empfindung erreichen, die andere Formen des Erzählens gern aus dem Bild räumen oder bloß zweckmäßig ausnützen. In der endlosen Verzögerung jedes Moments formen sich Punkte der Intensität, übergänge, Reales und Imaginäres streifen aneinander, geraten ins Kippen.
Man muß sich im Gehen erst den Boden unter die Füße legen (und kann doch gehen); man muß sich im Gehen den Boden unter den Füßen wegreißen (und kann doch gehen).