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was kommt

Hinter dem Bahnhof von Nußdorf stellen, ein paar Tage vor dem Wettersturz Anfang September, Emilia und Georg ihre Räder ab; auf dieser Höhe beginnt oder endet die Insel: das Flusswasser wird durch eine Schleuse in den Kanal geleitet, über die eine Brücke führt; sehr hoch oben auf den Brückenköpfen thronen bronzene Löwen und starren mit stolzem, leeren Blick ins Land hinaus. Hier beginnt oder endet eigentlich auch die Stadt, läuft in Weingärten und schmalen Dorfstraßen aus; die Trasse der Kaiser-Franz-Josephs-Bahn schneidet Nußdorf vom Fluss ab, auf der anderen Seite hebt sich hinter den Auen ein flacher Hügel, viel später wird eine Autobahn auf breiten Betonstelzen hoch über den Köpfen der Radfahrer und Spaziergänger neben und über der Bahntrasse und dem Ufer entlangführen, sie wird sie noch sehen. Auf den Werbeschildern der Städtischen Versicherung neben der Bahnhofsuhr hat der breitschultrige Rathausmann in seiner Rüstung die Arme in die Hüften gestemmt; das Stadtwappen mit dem Kreuz unter ihm erscheint wie ein in den Boden gerammtes Schwert. Wenn am Wochenende der Fluss (gelbbraun geworden, mit Strömungswirbeln, in denen Trümmer und äste mitgeschwemmt werden) Hochwasser herantreibt, wird es in dieser Gegend, wo die Straßen gleich ansteigen, nicht zu überflutungen kommen; vielleicht ist vor Jahrhunderten, als es keine Bahntrasse, keine Häuser außer Fischerhüttchen, keine Schleusen und keine Uferbefestigung gab, das Wasser weiter hinauf­ge­kommen, bis über ihre Köpfe, jetzt atmen sie. Sie laufen eine Zeit lang durch die krummen Gässchen der kleinen Vorstadt, dann entlang der Trasse der Zahnradbahn, die bis vor einigen Jahren Ausflügler zu den Spazierwegen und zu den Aussichtspunkten am Berg gebracht hat; wie kann es sein, denkt Emilia, dass sie die Nähe eines anderen Menschen, eines Menschenkörpers so intensiv spürt, dass ein anderer Mensch, ein Körper ihr so nah ist, ihrem Körper so nah, auch wenn sie sich gar nicht berühren; warme, fast sichtbare, fast glühende Schleier und Netze schließen sie aneinander, während sie zwischen den alten einstöckigen Häuschen mit den dicken weißen Mauern, den breiten Hoftoren, den am First geknickten Schindeldächern ihre Spur ziehen (als gäbe es eine Spur, als könnte sich, nach Jahrzehnten, jemand auf den Boden niederlassen, zwischen verwirrten Touristen, empörten Autofahrern, von Pensionistinnen mit Hunden angestarrt, das Ohr ans inzwischen oftmals aufgerissene und neu verlegte Straßenpflaster legen; als könnte er langsam einsinken ins Straßenpflaster, dort eine andere Welt finden). Sie riecht seine Kleidung und wird den Geruch immer in ihrer Nase behalten, die Haut, die jeden Punkt dieser Kleidung berührt; er dreht, während sie miteinander reden, den Kopf zu ihr hin, sie wird sein Gesicht, die Haarsträhne, die sich mit einem kleinen Schwung um sein Ohrläppchen dreht, die dunklen Pupillen nicht vergessen, denkt sie, und vergißt sie schon; sieht sie schon wie ein Bild, das sie festhalten muss, sie greift nach seiner Hand. Er weiß nicht, ob es nicht gescheit wäre wegzugehen, sagt Georg, das hier kann jeden Moment zusammenbrechen, und es werden jetzt nicht wir sein, die in die Höhe geschwemmt werden. Sag es nicht den anderen, vor allem nicht Peter, aber er hat manchmal das Gefühl, sie würden nur so tun als würden sie handeln; es ist richtig, was sie tun, einfach weil es schlimm wäre, wenn gar niemand etwas tun würde, aber sie sind so wenige, und im Moment geht einfach jede Handlung ins Leere, während der Feind (und ich meine nicht unsere vaterländischen Kasperln hier) tun kann, was er will, und alles geht auf. Und die Leute sind apathisch, sie werden alles mit sich machen lassen und alles mitmachen … und wir bereiten uns vor und bereiten uns vor und wissen gar nicht worauf. Wir können lernen und lesen und Wissen ansammeln, aber dieses ganze Lernen und dieses Wissen und die Wahrheit nützt uns auf irgendwie absehbare Zeit überhaupt nichts und nützt unserer Sache nicht und nützt keiner Sache: als wäre da eine unsichtbare Grenze. Und Spanien … wie viel von sich selbst muss man hergeben, wegschneiden? Und was ist, wenn unter dem Entsetzlichen des Sterbens und Tötens das Notwendige und Richtige einfach verschwindet? Sie sucht nach einem Satz über das geschichtlich Notwendige, das sich am Ende doch durchsetzt, und die Vernunft hinter all dem Durcheinander von Lügen und Kämpfen und Gelähmtheit und weiß zugleich, dass es keine passenden Sätze gibt. Jedes große geschichtliche Ereignis, sagt Dr. Steinitz, fordert seine Opfer, und es braucht nicht einmal besondere Ereignisse, es genügt der sogenannte normale Zeitverlauf. Wo würdest du denn hingehen, flüstert Emilia, nicht in Georgs Gesicht sondern in die Spätsommerluft hinein, eine Brise aus Wörtern zwischen den dicken alten Mauern. Kleine weiße Wölkchen ziehen freundlich über den Himmel. Er zuckt die Achseln, werd ich mir das aussuchen können. In vier Jahren, wenn sie volljährig ist, wird sie Geld von ihrem Vater bekommen; sie könnte schon jetzt einen Brief an ihren Vater schreiben, ihn um einen Vorschuss bitten und darum, dass er sich für ein Visum einsetzt, sie würde es quälend finden, so einen Brief zu schreiben, kann sich kaum vorstellen, der kleine Mann am anderen Ende des Zimmers, dieses Zimmers am anderen Ende der Welt, hinter Rauchwolken und der Wüste eines Meeres, würde so einen Brief (der keinerlei Platz in der Ordnung seiner Geschäfte und Pläne hat) überhaupt beantworten; was würde sie selbst tun, so knapp vor der Matura, dableiben, was auch immer geschieht, und warten; Georg begleiten; alles aufgeben (Kind, du machst mir Sorgen, sagt die Großmutter, in sehr großer Entfernung, in so großer Entfernung als wäre sie schon tot): ein Schlag müsste all die Hindernisse, den ganzen Dreck wegfegen können. Erst der Kommunismus wird eine Welt erschaffen, in der man leben kann wie ein Mensch: warum lässt sich dieser Satz jetzt nicht sagen und nur unter Anführungszeichen denken. Sie streicht mit den Fingern über die Haut seiner Unterarme.
Bei der Backsteinmauer des Friedhofs biegen sie in die Weinberge; der Kies knirscht unter den Absätzen ihrer Schuhe, ihr langer, etwas zu warmer Rock kratzt an ihren Beinen. Sie zündet sich eine Zigarette an und reicht sie an Georg weiter; schaut zu, wie seine Lippen an dem Papier saugen, auf dem die Spur ihrer Lippen vielleicht noch zu schmecken ist, dreht ihren Kopf nah zu dem seinen, atmet den Rauch ein, der aus seinem Mund, seinen Lungen dringt. Er ist jetzt unbeweglich und zugleich ganz leicht, sie ist so viel älter als er. Sie ist zwei Jahre jünger als er. Die Sonne lässt ihre nackten Gesichter hervortreten, als gäbe es sonst nichts auf der Welt, nur diese Haut, diese Nacktheit; sein Gesicht, sein Körper sagt ihr etwas, das mit seinen Wörtern nicht in Einklang kommen wird, sein Körper glaubt nicht an seine Wörter (auch wenn sie beide, Körper und Wörter, recht haben). Wenn sie sich umwenden, ist die Stadt verschwunden, weit hinter der Hügelkuppe sind am Horizont die Felder auf der anderen Seite des Flusses sichtbar, die sich bis zur Staatsgrenze ziehen, dazwischen ist nichts oder etwas Unbekanntes, das sie noch entdecken werden. Sie drückt etwas fester seine Hand, und sie steigen ein paar Schritte eine Böschung hinauf; dichte Stauden schützen sie vor den Blicken von Spaziergängern am Weg unter ihnen; die Rebstöcke ziehen sich in geraden Reihen den Hang hoch. Er breitet seine Jacke in dem kleinen freibleibenden Streifen zwischen dem Gebüsch und den Weinstöcken auf die Erde; gleich spürt sie an ihrem ganzen Körper seine Umarmung. Die Raum dehnt sich endlos aus und ist zugleich auf diesen winzigen Flecken Erde zwischen dem Gebüsch und den Weinstöcken reduziert; ihre Zähne und ihre Zunge graben sich in seinen warmen, leicht feuchten Nacken, seine Hand schiebt ihren Rock hoch, sie spürt seine Finger an ihrem Schenkeln, ihrem Schamhaar, zwischen ihren Schamlippen und lacht auf, die Kasperln draußen sind ihr egal, es gibt sie nicht, sie können kommen und durchs Bild laufen, sie werden den Augenblick so wenig stören wie die Ameisen, die ihr über die Kleider und über die nackten Beine kriechen, die harte Erde unter Georgs zerdrückter Jacke (Erde ist Erde, keine fremde, keine Heimaterde); etwas Glitschiges, Warmes, wunderbar Dreckiges lässt den Unterschied von Innen und Außen verschwinden; der fremde Körper fließt als ganzes in ihren Körper hinein, so wie sie sich als ganzes in den fremden Körper hineinfließen fühlt, sie spürt zugleich, dass sie irgendeine andere sein könnte, wie sie spürt, dass er irgendein anderer sein könnte. Dann kommt erst der Schmerz. Was wäre, wenn sie jetzt schwanger würde, denkt sie nachher, während Georg sich abgewendet hat, um sich Blut und Sperma abzuwischen (sie würde ihm gern dabei zuschauen), vielleicht würde das alles ändern, alles klarmachen (oder nur weiter komplizieren), sie krümmt sich zusammen, bläst eine Ameise von ihrem Handrücken. Sie wird ein Kind haben, aber nicht jetzt, sondern in mehr als zwanzig Jahren, von einem Mann, der sie an ihren Vater erinnert und nichts als ein Stück Fleisch ist. Oben am Berg, auf der Terrasse vor dem neuen Restaurant, sitzen sie auf den Gartenstühlen, trinken gespritzten Weißwein und schauen auf die Stadt hinunter, die kleiner geworden ist, ein wucherndes, unregelmäßiges Muster, ein Fleck, der sich vom Dom am Rand des Blickfelds her bis zum Fluss hin ausdehnt; dort sind das Stadion und die Rotunde mit ihrer riesigen Kuppel zu erkennen. Es schaut aus, als würde die Stadt in kleinen Ringen anwachsen, sagt Georg, als hätte man vor Jahrhunderten einen Stein ins Wasser geworfen, der Steffl, sagt Emilia, mit Anführungszeichen in ihrer Stimme, man könnte ihn niederreißen und einen Funkturm an seiner Stelle errichten. Alles ist wie vorher, sie können über gleich welches Thema reden, alles sollte immer so weitergehen. Hinter dem Fluss und dem großen Gemeindebau bei der Reichsbrücke, den beim Bürgerkrieg vor drei Jahren das Bundesheer zerschossen hat, breiten sich die Auwälder des überschwemmungsgebiets aus, dahinter nach Norden und Osten hin die flachen Felder; vor der Brücke liegt zwischen Schießplatz und Feuerwerksfabrik die Siedlung Amerikalacke, mit Hütten aus Holz, Pappe und Wellblech, ohne Strom- und Wasserleitungen, mit bei Regen knietief schlammigen Straßen, niemand geht hinein, der nicht da wohnt, sagt Georg, von den Leuten dort ist keiner mehr bei der Partei.
Am Freitag regnet es und ist so kalt, dass Emilia den Pullover aus dem Schrank kramen muss, es regnet, es regnet, es regnet, singt sie sich vor, während sie durch ihr Zimmer kreist oder am Fenster lehnt und auf den Abend wartet. Georg arbeitet jetzt tagsüber, als Lehrling in der Buchhandlung seines Vaters, es hat keinen Sinn, meint er, in dieser Zeit ein Studium anzufangen. Sie isst nicht zu Abend, geht zu Fuß über den Kanal und bis zum Schottenring, springt dort auf eine halbleere Straßenbahn auf und fährt zwei Stationen bis zur Universität, sie steigt aus und spürt den Regen auf ihrer Kopfhaut, spannt den Schirm nicht wieder auf, sondern läuft, wie vor Wochen am Land, nun allein über den Asphalt, dem klobigen Kasten der Uni entlang, es sind nur ein paar Schritte, aber schon wieder scheinen sie, gleich jetzt im Moment, unendlich wiederholbar, nur ist noch ganz unklar, ob mit Schmerz oder mit Glück. In wie vielen anderen Leben wird sie dieses Unigebäude wieder sehen und wieder betreten; wie kann sie noch je durch den Regen laufen und in der Gegenwart verbleiben. An der nächsten Straßenecke wartet Georg unter den Arkaden auf sie, es ist nach halb neun, die anderen sind schon unten. Sie spürt seinen Kuss auf ihren regennassen Lippen kaum. Georg hat die Karten, sie steigen unter einem Torbogen hinter der Theke hindurch in den Keller hinab, Willkommen in den Katakomben, sagt Leo, der schon an einem kleinen Tischchen sitzt, zu ihr, und erzählt, dass er den Autor des Stückes kennt, der sich Fritz Feder nennt und in Wahrheit Jura heißt und seit ein paar Tagen verhaftet sein soll, niemand weiß so genau warum. Ein paar dutzend Leute sitzen in dem Kellerraum herum, genau neunundvierzig, sagt Georg, sonst würde das Theater eine Lizenz brauchen; oder genauer gesagt achtundvierzig, wenn man den Staatspolizisten nicht mitrechnet (erkennst du ihn? sie erkennt ihn, es ist ein Mann, der einen Staatspolizisten spielt, der einen Theaterbesucher spielt; ein Mann, der in Jura promoviert hat, jeden Sonntag in die Kirche geht und auf jeden kleinen Trick der Autoren und Darsteller reinfallen wird). Sie bestellt ein Glas Bier, schaut zu, wie Peter am Nebentisch den Kopf zu Ruth hinbeugt, um ihr etwas zuzuflüstern, und ist glücklich, gar nicht wissen zu wollen, was er ihr zuflüstern mag, Ruth lächelt. Nach der ersten Pause beginnt das eigentliche Stück. Emilia fühlt sich leicht benommen von ihrem Bier, ihr Bewusstsein ist klar, aber sie steht neben ihrem Bewusstsein: von der zweiten Szene des Stückes an ist das der richtige Ort, die Grenzen verschwimmen. Auf einem Domplatz tief unter dem Wasser liegt ein Matrose im Taucheranzug, ein Glockenläuten weckt ihn, wo bin ich, fragt er im Aufwachen, wie bin ich hierher geraten. Die Gesichter sind scharf und weiß beleuchtet, die Schatten auf den Wangen treten hervor, kennt sie nicht diese Art von Blick, diese leeren Blicke: einige Bettler und Senatoren, eine junge Lilie, ein Stadtschreiber, der weiß, was alle anderen vergessen haben, und nichts aus seinem Wissen machen kann oder will, so schauen Gespenster aus; sie hat den Eindruck, diese Menschen immer wieder auf der Straße zu treffen, selbst unter den Ozean versunken zu sein, in Vineta, nicht in Wien, an einem Ort, wo die Toten über Jahrhunderte so tun als würden sie leben (ist sie jetzt dort, in der versunkenen Stadt, oder wird sie später, bald dort umgehen, lernen dort umzugehen wie der Matrose auf der Bühne es lernt). Sie weiß, dass Georg neben ihr sitzt, sie kann ab und zu einen Schluck aus ihrem Bierglas nehmen. Es sind Schauspieler, die auf den Brettern vorne im Licht miteinander reden und so tun als wären sie Menschen, die so tun als würden sie leben. Aber es wird nicht deklamiert, es werden bloß Sätze gesagt; die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum erscheint ihr zugleich deutlicher und aufgehoben: als würde sie durch Glas auf eine andere Welt schauen und nicht wissen, welche Seite die Wirkliche ist; was die Sätze bedeuten, die sie selbst und die Menschen um sie herum immerzu sagen und denken, wiederholen und vergessen, und wo diese Sätze ihren Halt haben; warum sitzen die Zuschauer still da, als wären sie an ihre Sitze gefesselt, und tun nichts als zu lachen, verhalten zu husten und am Ende zu klatschen und Bravo zu rufen, warum wissen sie alle genau, was sich für einen Zuschauer, in dieser Stunde zwischen der einen und der anderen Welt, gehört (sie selbst tut so, als würde sie es wissen). Keiner stirbt, die Zeit ist aufgehoben, keine Handlung, kein Satz hat eine Bedeutung, sobald er ausgesprochen ist, zerrinnt er schon, alles kann vergessen werden; wirklich ist nur das Meer über den Köpfen. Sie glaubt, schon einmal eine Unterwasserwelt wie diese geträumt zu haben, vielleicht mit fremden Augen: eine Hölle, ein Traum, ein Rückzugsort, eine Hölle, sie denkt an den Stich von Venedig in ihrem Zimmer und an das, was ihr Georg über Venedig und die Stadt aus Bäumen unter der Oberfläche erzählt hat. Sie trinkt nach dem Stück noch zwei oder drei Kaffees und mischt sich kaum ins Gespräch, sieht zu, wie die anderen langsam betrunkener werden als sie es ist. Beim Hinaufgehen über die schmale Treppe ins Café unter den Arkaden fühlt sie den Abstand zu den anderen, sie fühlt jeden Schritt in ihren Beinen, ihrem Hintern, ihrem Rückgrat, sie fühlt sich als wäre sie nackt. Sie möchte zu Fuß nach Hause gehen, klammert sich unter dem Schirm an Georgs Arm. Wir müssen unsere ganze Kraft dransetzen, sagt der Matrose, dass die Sturzflut nicht kommt, sie erkennt die leeren Straßen wieder, die Häuser, die alle so dastehen als würden sie immer auf ihre Blicke warten wollen.